Das Handbuch
Mit sprachlichen Missverständnissen umgehen – Klar und verständlich sprechen – Kommunikation auf Augenhöhe
1. WORUM ES GEHT
Willkommen meine Damen und Herren zu unserem Lernszenario „Das Handbuch“.
Unsere kleine Animation eröffnet das Thema „Interkulturelle Kommunikation“ aus zwei Blickwinkeln:
Zum einen werden wir auf einige Tücken der deutschen Sprache hinweisen:
- Die schwere Verständlichkeit von Komposita (zusammengesetzte Wörter) durch Jugendliche nichtdeutscher Herkunftssprache.
- Auf die Affinität der deutschen Sprache hin zu komplexen und damit für Jugendliche nichtdeutscher Herkunftssprache schwer verständlichen Satzkonstruktionen.
- Abschließen werden wir diesen ersten Komplex mit einigen Tipps für ein verständliches Deutsch, wenn Sie im Dialog mit Jugendlichen nichtdeutscher Herkunftssprache sind.
Im zweiten Komplex werden wir abwägen, wie eine Kommunikations-Position aussehen könnte, die im wahrsten Sinne des Wortes „auf Augenhöhe“ ist.
Hier wird es um Aspekte der sprachlichen Symmetrie gehen und um eine wertschätzende Gesprächsführung. Wir werden hier nach dem Umgang mit Anderen fragen, wie wir aus uns selbst heraus und auf den Anderen zu gehen; wie wir in Verbindung treten könnten. Dabei orientieren wir uns an Kenneth J. Gergens „Die Psychologie des Zusammenseins“, dessen aktuelles Denken von der Frage geleitet ist: Wie bauen wir eine Beziehung auf, die in ein Miteinander mündet?
Unsere Animation lädt geradezu ein zu dieser Frage. Denn hier sehen Sie eine zutiefst asymmetrische Beziehung: Auf der einen Seite der Chef in seiner Allmacht. Auf der anderen Seite ein Jugendlicher nichtdeutscher Herkunftssprache, der der Willkür des Oberen ausgeliefert ist. Eine Situation, die auch im intrakulturellen Kontext häufig ist. Die aber durch die kulturelle Distanz noch verschärft wird.
Leitende Frage wird im zweiten Teil sein: Wie ermöglichen wir Empowerment für Jugendliche nichtdeutscher Herkunftssprache im Kontext von arbeitsweltlicher Erfahrung?
Wenden wir uns den sprachlichen Aspekten zu.
Nun folgend geht es um typische Tücken der deutschen Sprache.
Schwerpunkt sind hier sprachliche Aspekte. Wir fragen danach, wie Sie mit einigen Tücken der deutschen Sprache umgehen:
- zusammengesetzte Substantiva (Komposita): Erklärung und Gebrauch
- Tipps zum Umgang mit Komposita
2. ÜBERBLICK
In diesem Lernszenario stolpert Ali in einige Sprachfallen. Er versteht nicht, was sein Chef von ihm will. Dabei trifft Ali keine Schuld.
Sein Chef kann sich null in Ali einfühlen. Er hat keinerlei Vorstellung, welche Sprachhürden im Deutschen für Nichtmuttersprachler lauern.
Die zusammengesetzten Substantiva sind eine solche Herausforderung für Jugendlichen nichtdeutscher Herkunftssprache. Wie Sie als deutsche Muttersprachler*in für Jugendliche nichtdeutscher Herkunftssprache verständlicher werden, das werden Sie gleich erfahren.
Weiter werden wir Ihnen einige Tipps geben, Informationen zu strukturieren. Wir zeigen Ihnen, wie Sie sich mit kurzen Sätzen klar ausdrücken können.
Dabei werden wir uns an dem Konzept der Leichten Sprache orientieren und das Konzept den Erfordernissen der Beruflichen Orientierung anpassen. Besonders berücksichtigen wir dabei Situationen, in denen Schülerinnen und Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache erste arbeitsweltliche Erfahrungen machen.
3. Die ANIMATION
Fragen
Wie könnte Herr Meier Missverständnisse vermeiden? Was schlagen Sie ihm vor?
Was könnten wohl die Gründe dafür sein, dass sich Herr Meier sprachlich so unsensibel verhält?
4. Sprachliche Missverständnisse vermeiden
4.1 Komposita
Der Chef, Herr Meier benutzt dabei eine Wortgattung, die uns Muttersprachlern selbstverständlich ist, die aber für Jugendliche nichtdeutscher Herkunftssprache eine enorme Hürde bedeutet: Die zusammengesetzten Substantiva. Gemeinhin auch Komposita genannt.
Beispielsweise hätte ich jetzt auch schreiben können: … die aber für Jugendliche nichtdeutscher Herkunftssprache eine enorme Verständnishürde bedeutet. Das Wort „Verständnishürde“ ist ein aus zwei Substantiva zusammengesetztes Hauptwort/Substantiv: Verständnis und Hürde.
Erinnern Sie sich: Herr Meiers aktiver Sprachwortschatz wimmelt nur so von Komposita: Handbuch, Notschalter, Blechwalzmaschine….
Flappsig könnte man sagen, in einem Kompositum werden zwei Bedeutungen ineinander geschraubt. Oder wissenschaftlich[1]: Ein Kompositum ist ein komplexes Wort, das aus mindestens zwei Nomina/Hauptwörtern besteht. Handbuch zum Beispiel; oder Verständnishürde.
Ein Kompositum ist ein neues Wort, das aus der Verbindung mindestens zweier vorhandener Worte entsteht. So können wir im Deutschen sehr schnell unseren Sprachwortschatz erweitern.
Komposita sind verdichtete Informationen. Gäbe es keine Komposita, so müssten wir den Sachverhalt mit einem kompletten Satz ausdrücken.
Seien wir glücklich, dass wir im Deutschen die Komposita haben. Die deutsche Sprache wird damit sehr präzise und kann leicht neue Dinge sprachlich integrieren. Gerade im dynamischen Umfeld von Beruf, ist die sprachlich einfache Möglichkeit zur Bildung neuer Wörter von großem Vorteil. Linguistische Untersuchungen bestätigen, dass „deutsche Wortbildner besonders kreativ mit den Möglichkeiten komplexer Strukturierung umgehen“[2].
Für Jugendliche nichtdeutscher Herkunfssprache ist das ein Problem, dessen wir uns bewusst werden sollten.
5. Tipps zum Umgang mit Komposita:
Unser erster Tipp: Komposita vermeiden
Bitte vermeiden Sie Komposita. Das geht nicht immer, aber immer öfters. Das ist gewöhnungsbedürftig. Entscheidend ist, dass Sie Komposita als eine sprachliche Verständnishürde erkennen.
Quiz
4.2 Mit einfachen Sätzen reden: leichte Sprache in der Beruflichen Orientierung einsetzen:
Jetzt noch einige Bemerkungen zum Thema:
Informationen so strukturieren,
dass sie verständlich sind.
Die deutsche Sprache ist in ihrer grammatikalischen Struktur komplex. In kaum einer anderen Sprache kann man Komplexität so gut ausdrücken. Ein Grund dafür ist aus Perspektive der kontrastiven Linguistik der häufige Gebrauch von Nebensatzkonstruktionen.
Es gibt kaum eine Sprache, in der so intensiv und komplex Nebensätze zur Anwendung kommen, wie die deutsche Sprache. Aber für viele Jugendliche nichtdeutscher Herkunftssrpache sind die vielen Nebensatzkonstruktionen der deutschen Alltagssprache eine Riesenherausforderung.
Wussten Sie schon, dass im DAZ-Unterricht der Gebrauch von einfachen Nebensatzkonstruktionen erst auf dem B1-Level beginnt? Was wir sozusagen mit der Milch vom stillenden Elternteil eingesogen haben, ist für Jugendliche nichtdeutscher Herkunftssprache ein Problem.
Wenn Sie Schüler*innen im Unterricht haben, die auf A2-Niveau reden, dann haben die Probleme mit Ihren Nebensätzen. Oder – um es noch pointierter auszudrücken – wenn Sie mit Komposita in Kombination mit Nebensätzen reden, dann setzen Sie ein B2-Niveau bei Ihren SchülerInnen voraus. Also verstehen mehr als die Hälfte Ihrer Schülerinnen und Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache nicht, was Sie sagen.
Gute Nachricht: Es gibt Lösungen.
Quiz
5. Die Beziehung
Verehrte Kolleginnen und Kollegen,
bisher haben wir über die sprachlichen Herausforderungen und den Umgang damit nachgedacht. Aber das ist höchstens die halbe Miete, wenn wir über Gelingensfaktoren von arbeitsweltlichen Erfahrungen nachdenken.
Deswegen sehen Sie hier folgend den zweiten Teil unserer Ausführungen. Hier tauchen wir ein in die Tiefe von Beziehungen, deren Bedeutung im interkulturellen Dialog im Allgemeinen und für das Gelingen von Praktika im Speziellen. Wir werden danach fragen:
- Welches Gewicht Alis Beziehungs-Netzwerk für seinen Erfolg im Praktikum, Schule und Beruf hat und haben wird.
- wie wir Beziehungen als Chance und Ressource begreifen und
- wie wir Jugendliche nichtdeutscher Herkunftssprache Empowerment ermöglichen.
Gelingensfaktoren im Praktikum unter interkulturellen Vorzeichen.
Meine Damen und Herren, Ali hat es schwer. Die Probleme, mit denen er zu kämpfen hat, liegen auf der Hand:
- Ein autoritärer Chef.
- emotional überfordert und unsicher in einer neuen Situation
- sprachlich ebenfalls überfordert
Im Zuge der ersten arbeitsweltlichen Erfahrungen steht unser Avatar „Ali“ für viele Jugendliche nichtdeutscher Herkunftssprache, die leider vergleichbare Erfahrungen erdulden müssen.
Gleichzeitig wissen wir, dass das Gelingen einer arbeitsweltlichen Erfahrung zentral von der Qualität der menschlichen Beziehungen und der Zuwendung abhängt, die die neuen Praktikant*innen erfahren. Lernerfolg und Berufliche Orientierung sind in ihrer Qualität „das Resultat von Interaktionsbeziehungen“[3]. Damit bekommt jede praktische berufliche (Orientierungs-)Erfahrung eine einzigartige Qualität.
Wir müssen vorsichtig sein mit dem Faktor Sprache. Er ist eben nur ein Faktor. Wir dürfen uns genauso wenig dahinter verstecken, wie Herr Meier in unserer Animation. Der schiebt die unangenehme Situation einseitig nur auf sprachliche Missverständnisse.
Dass die Situation aus dem Ruder läuft, hat aber mehrere Gründe. Gründe, die schwerwiegender sind als die fremdsprachlichen Herausforderungen. Gründe, die sich in den meisten deutschen Unternehmen gegen unendlich variierende Spielarten beobachten lassen. Als da wären:
- Das Verhalten des Chefs signalisiert keine Bereitschaft seines inneren Einlassens auf den jungen Mann.
- Das Verhalten des Chefs ist bestimmt durch einen kulturell häufig vorzufindenden autoritären Führungsstil.
- Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass „unser“ Chef sein Verhalten selbstkritisch oder gar ressourcenorientiert hinterfragen würde.
Arbeitsweltliche Erfahrungen mit Empowerment
Aspekte der Beziehung und des Empowerments zwischen den beteiligten Akteuren stehen im zweiten Teil unserer Betrachtungen im Mittelpunkt.
Diese nicht-sprachlichen Aspekte sind für das Gelingen des Praktikums bedeutsamer als Aspekte des qualifizierten Umganges mit sprachlicher Asymmetrie mit Jugendlichen nichtdeutscher Herkunftssprache im Kontext arbeitsweltlicher Ersterfahrungen.
Das Praktikum ist eine psychisch-emotionale Herausforderung sowohl für in Deutschland Geborene, wie auch für Jugendliche nichtdeutscher Herkunftssprache. Wobei letztere ihre kulturelle Primärprägung in anderen Kulturen erhalten haben. Insofern erschließen sich ihnen die informellen Akteursfelddynamiken wie z.B. Praktikum oft nicht so intuitiv-unmittelbar, wie es bei vielen Jugendlichen der Fall ist, die in Deutschland aufgewachsen sind.
Dass wir jetzt auf diese Aspekte ein verstärktes Augenmerk legen, hat mehrere Gründe:
Erstens sind Praktika „Erlebnisse, die verändern.“ [4]
Und zweitens hängt das Gelingen einer arbeitsweltlichen Erfahrung unmittelbar von der Qualität der menschlichen Beziehungen und der Zuwendung ab, die die neuen Praktikant*innen erfahren[5]. Lernerfolg und Berufliche Orientierung sind in ihrer Qualität „das Resultat von Interaktionsbeziehungen“ [6].
Drittens ist insgesamt eine Neugewichtung und Aufwertung der interkulturellen Kommunikationsforschung hin zu den Netzwerkbeziehungen (Relationalitäten) der beteiligten Akteur*innen zu konstatieren. Bolten spricht in diesem Zusammenhang von einer „relationalen Disruption“[7].
Es lohnt also der Versuch, die Gelingensbedingungen von arbeitsweltlichen Erfahrungen mit Jugendlichen nichtdeutscher Herkunftssprache unter der relationalen Perspektive von Interkulturalität zu versuchen. Noch dazu ergeben sich damit interessante Aspekte hinsichtlich des aktuell viel diskutierten Begriffes „Empowerment“ in interkulturell-arbeitsweltlichen Aspekten.
Lassen Sie uns im Folgenden zunächst eine Systematik des Beziehungsaufbaues in fremdkulturellen Kontexten skizieren. Nehmen wir dafür im ersten Schritt unseren Avatar Herrn Meier, der ein wenig holzschnittartig den autoritären Chef darstellt.
6. Zusammenfassung
Dreh- und Angelpunkt des Schaffens von Wohlbefinden ist die bewusste Auseinandersetzung mit dem Anderen, genauso wie dessen Anerkennung und Wertschätzung. Weiter sollten fremdkulturell motivierte Differenzerfahrungen als Potential betrachtet werden.
In der Konsequenz weitergedacht bedeutet ein solch „wohlbefindenskonzentriertes Verhalten“ die aktive Teilnahme an der Person des Gegenübers; verbunden mit der immer wieder zu stellenden Frage: Welche Folgen hat mein Handeln für die gemeinsame Zusammenarbeit?
II Wohlbefinden eine Utopie?
Vielleicht klingen diese Ausführungen utopisch und weltfremd. Viele mögen sich damit überfordert fühlen und verärgert abwenden. Denn ihre arbeitsweltlichen Gewohnheiten, Erfahrungen und Möglichkeiten sind andere. Andere werden sagen: „Machen wir doch sowieso!“
Jedoch werden Akteursfelder wie beispielsweise kleine und mittelständische Unternehmen in Thüringen nur dann erfolgreich die Potentiale von Jugendlichen nichtdeutscher Herkunftssprache aktivieren, wenn sie die obengenannten Vorschläge berücksichtigen und in ihre Unternehmenskultur integrieren.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat im November 2022 das 4. Dialogforum „Integration durch Bildung“ veranstaltet. Hier wurde ausdrücklich überlegt, „wie der Übergang in Ausbildung und Studium besser gelingen kann“[14].
Im Impulsvortrag durch das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) wird genau auf diese Herausforderungen hingewiesen, die wir als ISBO thematisieren: Bedauert wird die „strukturelle Benachteiligung am Übergang“ [15] Konstatiert wird, dass der „Perspektivwechsel bei Unternehmen notwendig“ ist. Dabei wird darauf hingewiesen, dass Ausbildungsstellen, die „sich dabei auf ihre bisherigen Rekrutierungsstrategien und „Entscheidungslogiken“ (…) verlassen, geringere Chancen haben, (…). Wichtig ist es, bereits vor Beginn der Ausbildung Vertrauen auf beiden Seiten zu schaffen und Klebeeffekte durch Praktika und Einstiegsqualifizierungen (EQ) zu fördern. (Hervorhebung M.N.)“[16] Diese prominenten Stimmen – so unbequem sie auch sind – unterstreichen unsere Ausführungen.
Ausbildungsunternehmen, die Wohlbefinden, Vertrauen und Empowerment strukturell in ihre Ausbildung integrieren, werden leichter Mitarbeiter*innen gewinnen.