Das Handbuch

Mit sprachlichen Missverständnissen umgehen – Klar und verständlich sprechen – Kommunikation auf Augenhöhe

1. WORUM ES GEHT

Willkommen meine Damen und Herren zu unserem Lernszenario „Das Handbuch“.

Unsere kleine Animation eröffnet das Thema „Interkulturelle Kommunikation“ aus zwei Blickwinkeln:

Zum einen werden wir auf einige Tücken der deutschen Sprache hinweisen:

  • Die schwere Verständlichkeit von Komposita (zusammengesetzte Wörter) durch Jugendliche nichtdeutscher Herkunftssprache.
  • Auf die Affinität der deutschen Sprache hin zu komplexen und damit für Jugendliche nichtdeutscher Herkunftssprache schwer verständlichen Satzkonstruktionen.
  • Abschließen werden wir diesen ersten Komplex mit einigen Tipps für ein verständliches Deutsch, wenn Sie im Dialog mit Jugendlichen nichtdeutscher Herkunftssprache sind.

Im zweiten Komplex werden wir abwägen, wie eine Kommunikations-Position aussehen könnte, die im wahrsten Sinne des Wortes „auf Augenhöhe“ ist.

Hier wird es um Aspekte der sprachlichen Symmetrie gehen und um eine wertschätzende Gesprächsführung. Wir werden hier nach dem Umgang mit Anderen fragen, wie wir aus uns selbst heraus und auf den Anderen zu gehen; wie wir in Verbindung treten könnten. Dabei orientieren wir uns an Kenneth J. Gergens „Die Psychologie des Zusammenseins“, dessen aktuelles Denken von der Frage geleitet ist: Wie bauen wir eine Beziehung auf, die in ein Miteinander mündet?

Unsere Animation lädt geradezu ein zu dieser Frage. Denn hier sehen Sie eine zutiefst asymmetrische Beziehung: Auf der einen Seite der Chef in seiner Allmacht. Auf der anderen Seite ein Jugendlicher nichtdeutscher Herkunftssprache, der der Willkür des Oberen ausgeliefert ist. Eine Situation, die auch im intrakulturellen Kontext häufig ist. Die aber durch die kulturelle Distanz noch verschärft wird.

Leitende Frage wird im zweiten Teil sein: Wie ermöglichen wir Empowerment für Jugendliche nichtdeutscher Herkunftssprache im Kontext von arbeitsweltlicher Erfahrung?

Wenden wir uns den sprachlichen Aspekten zu.

Nun folgend geht es um typische Tücken der deutschen Sprache.

Schwerpunkt sind hier sprachliche Aspekte. Wir fragen danach, wie Sie mit einigen Tücken der deutschen Sprache umgehen:

  • zusammengesetzte Substantiva (Komposita): Erklärung und Gebrauch
  • Tipps zum Umgang mit Komposita

2. ÜBERBLICK

In diesem Lernszenario stolpert Ali in einige Sprachfallen. Er versteht nicht, was sein Chef von ihm will. Dabei trifft Ali keine Schuld.

Sein Chef kann sich null in Ali einfühlen. Er hat keinerlei Vorstellung, welche Sprachhürden im Deutschen für Nichtmuttersprachler lauern.

Die zusammengesetzten Substantiva sind eine solche Herausforderung für Jugendlichen nichtdeutscher Herkunftssprache. Wie Sie als deutsche Muttersprachler*in für Jugendliche nichtdeutscher Herkunftssprache verständlicher werden, das werden Sie gleich erfahren.

Weiter werden wir Ihnen einige Tipps geben, Informationen zu strukturieren. Wir zeigen Ihnen, wie Sie sich mit kurzen Sätzen klar ausdrücken können.

Dabei werden wir uns an dem Konzept der Leichten Sprache orientieren und das Konzept den Erfordernissen der Beruflichen Orientierung anpassen. Besonders berücksichtigen wir dabei Situationen, in denen Schülerinnen und Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache erste arbeitsweltliche Erfahrungen machen.

3. Die ANIMATION

Fragen

Wie könnte Herr Meier Missverständnisse vermeiden? Was schlagen Sie ihm vor?

Was könnten wohl die Gründe dafür sein, dass sich Herr Meier sprachlich so unsensibel verhält?

4. Sprachliche Missverständnisse vermeiden

4.1 Komposita

Der Chef, Herr Meier benutzt dabei eine Wortgattung, die uns Muttersprachlern selbstverständlich ist, die aber für Jugendliche nichtdeutscher Herkunftssprache eine enorme Hürde bedeutet: Die zusammengesetzten Substantiva. Gemeinhin auch Komposita genannt.

Beispielsweise hätte ich jetzt auch schreiben können: … die aber für Jugendliche nichtdeutscher Herkunftssprache eine enorme Verständnishürde bedeutet. Das Wort „Verständnishürde“ ist ein aus zwei Substantiva zusammengesetztes Hauptwort/Substantiv: Verständnis und Hürde.

Erinnern Sie sich: Herr Meiers aktiver Sprachwortschatz wimmelt nur so von Komposita: Handbuch, Notschalter, Blechwalzmaschine….

Flappsig könnte man sagen, in einem Kompositum werden zwei Bedeutungen ineinander geschraubt. Oder wissenschaftlich[1]: Ein Kompositum ist ein komplexes Wort, das aus mindestens zwei Nomina/Hauptwörtern besteht. Handbuch zum Beispiel; oder Verständnishürde.

Ein Kompositum ist ein neues Wort, das aus der Verbindung mindestens zweier vorhandener Worte entsteht. So können wir im Deutschen sehr schnell unseren Sprachwortschatz erweitern.

Komposita sind verdichtete Informationen. Gäbe es keine Komposita, so müssten wir den Sachverhalt mit einem kompletten Satz ausdrücken.

Seien wir glücklich, dass wir im Deutschen die Komposita haben. Die deutsche Sprache wird damit sehr präzise und kann leicht neue Dinge sprachlich integrieren. Gerade im dynamischen Umfeld von Beruf, ist die sprachlich einfache Möglichkeit zur Bildung neuer Wörter von großem Vorteil. Linguistische Untersuchungen bestätigen, dass „deutsche Wortbildner besonders kreativ mit den Möglichkeiten komplexer Strukturierung umgehen“[2].

Für Jugendliche nichtdeutscher Herkunfssprache ist das ein Problem, dessen wir uns bewusst werden sollten.

5. Tipps zum Umgang mit Komposita:

Unser erster Tipp: Komposita vermeiden

Bitte vermeiden Sie Komposita. Das geht nicht immer, aber immer öfters. Das ist gewöhnungsbedürftig. Entscheidend ist, dass Sie Komposita als eine sprachliche Verständnishürde erkennen.

Es reicht doch – um in unseren Beispielen zu bleiben –, wenn Sie „Buch“ sagen, oder „Schalter“ anstelle von Startschalter“, „Schrank“ anstelle von „Blechschrank“. Viele Komposita sind unnötig und überdeutlich.

Beispielsweise könnten Sie sagen: „Suche den Startschalter. Das ist der Schalter, mit dem du die Maschine startest.“ Wenn Sie so reden, dann hat das noch einen weiteren Vorteil: Ihre Schüler*innen und Praktikan*innen lernen so im Dialog den Umgang mit Komposita.

ieses Sich-Selbst-Beobachten ist anstrengend. In der Fachsprache nennen wir das Rollendistanz. Sie betrachten sich während des Sprechens von außen. Das müssen und können Sie auf Dauer durchhalten. Machen Sie sich kleine Zeitinseln. Sagen Sie sich: „Ich achte jetzt für zwei Minuten darauf, wie viele Komposita ich benutze.“ Wenn Sie sich Ihrer Sprache bewusster werden, dann werden sie erkennen, wie Sie Ihre Sprache für Jugendliche nichtdeutscher Herkunftssprache verständlicher machen.

Quiz


4.2 Mit einfachen Sätzen reden: leichte Sprache in der Beruflichen Orientierung einsetzen:

Jetzt noch einige Bemerkungen zum Thema:

Informationen so strukturieren,
dass sie verständlich sind.

Die deutsche Sprache ist in ihrer grammatikalischen Struktur komplex. In kaum einer anderen Sprache kann man Komplexität so gut ausdrücken. Ein Grund dafür ist aus Perspektive der kontrastiven Linguistik der häufige Gebrauch von Nebensatzkonstruktionen.

Es gibt kaum eine Sprache, in der so intensiv und komplex Nebensätze zur Anwendung kommen, wie die deutsche Sprache. Aber für viele Jugendliche nichtdeutscher Herkunftssrpache sind die vielen Nebensatzkonstruktionen der deutschen Alltagssprache eine Riesenherausforderung.

Wussten Sie schon, dass im DAZ-Unterricht der Gebrauch von einfachen Nebensatzkonstruktionen erst auf dem B1-Level beginnt? Was wir sozusagen mit der Milch vom stillenden Elternteil eingesogen haben, ist für Jugendliche nichtdeutscher Herkunftssprache ein Problem.

Wenn Sie Schüler*innen im Unterricht haben, die auf A2-Niveau reden, dann haben die Probleme mit Ihren Nebensätzen. Oder – um es noch pointierter auszudrücken – wenn Sie mit Komposita in Kombination mit Nebensätzen reden, dann setzen Sie ein B2-Niveau bei Ihren SchülerInnen voraus. Also verstehen mehr als die Hälfte Ihrer Schülerinnen und Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache nicht, was Sie sagen.

Gute Nachricht: Es gibt Lösungen.

In unserer Animation sagt Herr Meier: „Wenn Du die Maschine wieder anmachst, dann wirst du schon merken, ob sie wieder geht oder was los ist.

Der Hauptsatz lautet: Wenn Du die Maschine wieder anmachst.

Die Nebensätze lauten:…, dann wirst du schon merken, ob sie wieder geht oder was los ist.

Diese Satzkonstruktion besteht aus dem Hauptsatz und drei nachgeordneten Nebensätzen. Die Nebensätze sind jeweils durch logische Konnektoren mit dem Hauptsatz verbunden. Logische Satzkonjunktoren werden im DAZ-Unterricht nicht systematisch unterrichtet. Ob, weil, dann, sonst, aber…. das sind alles logische Konnektoren.

Tipp: Strukturieren Sie Ihre Aussagen nach dem S-P-O Prinzip – Subjekt-Prädikat-Objekt. Reden Sie mit einfachen Hauptsätzen. Reihen Sie diese hintereinander an. Setzen Sie Nebensätze nur dosiert ein. Verwenden Sie nachgeordnete Nebensätze. Benutzen Sie als logische Konnektoren „weil“, „und“ und „aber“.

Faustregel: Nach drei S-P-O-Sätzen, ein Satz mit nachgeordnetem Nebensatz.

Herr Meier sollte also so sprechen: Mach die Maschine wieder an. Schau was passiert. Ruf mich dann wieder an. –

Das sind drei S-P-O-Sätze hintereinander. Zugegeben, das klingt nicht schön. Aber es ist verständlich.

Das bedeutet: Die zentrale Aussage kommt in den ersten Satz. Natürlich als S-P-O-Konstruktion. Die restlichen Aussagen sind detailliertere Ausführungen oder Begründungen der Hauptaussage. Das nennt sich ein genetisch-logischer Aufbau.

Das bedeutet für Sie, dass Sie überlegen müssen, bevor Sie reden.

Tipp: Überlegen Sie sich Ihre zentrale Aussage. Die entscheidende Botschaft. Packen Sie diese in den ersten Satz. Das ist gewöhnungsbedürftig und anspruchsvoll. Auch hier schlagen wir die Insellösung vor. Starten Sie am Tag eins damit, dass Sie drei Minuten logisch-genetisch argumentieren. Verlängern Sie dann von Tag zu Tag diese Zeit; vergrössern Sie die Insel.

Der Rest Ihrer Argumentation ist umso einfacher, umso klarer Ihre erste zentrale Aussage ist. Die plötzlich sich ergebende logische Stringenz erleichtert die Entwicklung Ihrer weiteren Ausführungen.

Quiz


5. Die Beziehung

Verehrte Kolleginnen und Kollegen,

bisher haben wir über die sprachlichen Herausforderungen und den Umgang damit nachgedacht. Aber das ist höchstens die halbe Miete, wenn wir über Gelingensfaktoren von arbeitsweltlichen Erfahrungen nachdenken.

Deswegen sehen Sie hier folgend den zweiten Teil unserer Ausführungen. Hier tauchen wir ein in die Tiefe von Beziehungen, deren Bedeutung im interkulturellen Dialog im Allgemeinen und für das Gelingen von Praktika im Speziellen. Wir werden danach fragen:

  • Welches Gewicht Alis Beziehungs-Netzwerk für seinen Erfolg im Praktikum, Schule und Beruf hat und haben wird.
  • wie wir Beziehungen als Chance und Ressource begreifen und
  • wie wir Jugendliche nichtdeutscher Herkunftssprache Empowerment ermöglichen.

Gelingensfaktoren im Praktikum unter interkulturellen Vorzeichen.

Meine Damen und Herren, Ali hat es schwer. Die Probleme, mit denen er zu kämpfen hat, liegen auf der Hand:

  • Ein autoritärer Chef.
  • emotional überfordert und unsicher in einer neuen Situation
  • sprachlich ebenfalls überfordert

Im Zuge der ersten arbeitsweltlichen Erfahrungen steht unser Avatar „Ali“ für viele Jugendliche nichtdeutscher Herkunftssprache, die leider vergleichbare Erfahrungen erdulden müssen.

Gleichzeitig wissen wir, dass das Gelingen einer arbeitsweltlichen Erfahrung zentral von der Qualität der menschlichen Beziehungen und der Zuwendung abhängt, die die neuen Praktikant*innen erfahren. Lernerfolg und Berufliche Orientierung sind in ihrer Qualität „das Resultat von Interaktionsbeziehungen“[3]. Damit bekommt jede praktische berufliche (Orientierungs-)Erfahrung eine einzigartige Qualität.

Wir müssen vorsichtig sein mit dem Faktor Sprache. Er ist eben nur ein Faktor. Wir dürfen uns genauso wenig dahinter verstecken, wie Herr Meier in unserer Animation. Der schiebt die unangenehme Situation einseitig nur auf sprachliche Missverständnisse.

Dass die Situation aus dem Ruder läuft, hat aber mehrere Gründe. Gründe, die schwerwiegender sind als die fremdsprachlichen Herausforderungen. Gründe, die sich in den meisten deutschen Unternehmen gegen unendlich variierende Spielarten beobachten lassen. Als da wären:

  1. Das Verhalten des Chefs signalisiert keine Bereitschaft seines inneren Einlassens auf den jungen Mann.
  2. Das Verhalten des Chefs ist bestimmt durch einen kulturell häufig vorzufindenden autoritären Führungsstil.
  3. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass „unser“ Chef sein Verhalten selbstkritisch oder gar ressourcenorientiert hinterfragen würde.

Arbeitsweltliche Erfahrungen mit Empowerment

Aspekte der Beziehung und des Empowerments zwischen den beteiligten Akteuren stehen im zweiten Teil unserer Betrachtungen im Mittelpunkt.

Diese nicht-sprachlichen Aspekte sind für das Gelingen des Praktikums bedeutsamer als Aspekte des qualifizierten Umganges mit sprachlicher Asymmetrie mit Jugendlichen nichtdeutscher Herkunftssprache im Kontext arbeitsweltlicher Ersterfahrungen.

Das Praktikum ist eine psychisch-emotionale Herausforderung sowohl für in Deutschland Geborene, wie auch für Jugendliche nichtdeutscher Herkunftssprache. Wobei letztere ihre kulturelle Primärprägung in anderen Kulturen erhalten haben. Insofern erschließen sich ihnen die informellen Akteursfelddynamiken wie z.B. Praktikum oft nicht so intuitiv-unmittelbar, wie es bei vielen Jugendlichen der Fall ist, die in Deutschland aufgewachsen sind.

Dass wir jetzt auf diese Aspekte ein verstärktes Augenmerk legen, hat mehrere Gründe:

Erstens sind Praktika „Erlebnisse, die verändern.“ [4]

Und zweitens hängt das Gelingen einer arbeitsweltlichen Erfahrung unmittelbar von der Qualität der menschlichen Beziehungen und der Zuwendung ab, die die neuen Praktikant*innen erfahren[5]. Lernerfolg und Berufliche Orientierung sind in ihrer Qualität „das Resultat von Interaktionsbeziehungen“ [6].

Drittens ist insgesamt eine Neugewichtung und Aufwertung der interkulturellen Kommunikationsforschung hin zu den Netzwerkbeziehungen (Relationalitäten) der beteiligten Akteur*innen zu konstatieren. Bolten spricht in diesem Zusammenhang von einer „relationalen Disruption“[7].

Es lohnt also der Versuch, die Gelingensbedingungen von arbeitsweltlichen Erfahrungen mit Jugendlichen nichtdeutscher Herkunftssprache unter der relationalen Perspektive von Interkulturalität zu versuchen. Noch dazu ergeben sich damit interessante Aspekte hinsichtlich des aktuell viel diskutierten Begriffes „Empowerment“ in interkulturell-arbeitsweltlichen Aspekten.

Lassen Sie uns im Folgenden zunächst eine Systematik des Beziehungsaufbaues in fremdkulturellen Kontexten skizieren. Nehmen wir dafür im ersten Schritt unseren Avatar Herrn Meier, der ein wenig holzschnittartig den autoritären Chef darstellt.

Das aggressiv-autoritäre Verhalten von Herrn Meier kommt uns irgendwie vertraut vor. Er ärgert sich, dass Ali nicht selbst auf die Idee kommt, im Handbuch nachzuschlagen. Er ärgert sich weiter, weil seine gewohnten Routinen und Normalitätserwartungen bei diesem Jugendlichen nichtdeutscher Herkunftssprache nicht greifen. Er ist dominant und direkt. Er verunsichert den jungen Mann, frustriert und stresst ihn. Von Empathie keine Spur.

Das Telefonat mit Ali ist ein monologischer Dialog [8]. Herr Meier setzt seine Sichtweise durch. Er ist nicht an der wirklichen Reaktion des Gegenübers Ali interessiert. Hier geht es nicht um teilen, sondern um mitteilen. Herr Meiers Verhalten ist in jeder Hinsicht kontraproduktiv.

Umso schlimmer ist es, dass ein solches Verhalten durchaus eine uns allen vertraute Konventionalisierung im deutschen Arbeitsleben ist. So berauben sich Unternehmen der Chance, dringend benötigte Auszubildenden zu gewinnen. Was angesichts des eskalierenden Fachkräftemangels kontraproduktiv ist.

Herr Meiers Verhalten ist eine Verschwendung von Ressourcen: seiner Ressourcen, der Ressourcen seines Unternehmens wie auch der Ressourcen von Ali. Hier gibt es nur Verlierer.


Ali leidet unter einer dreifachen Verunsicherung, was zu einer Potenzierung seines Unwohlseins führt.

Erstens hat er mit den oben angesprochenen sprachlichen Problemen zu kämpfen. Er ist überfordert.

Zweitens ist er erstmals aus dem geschützten Lernraum der Schule entlassen worden. Er ist jetzt allein auf sich selbst gestellt. Er durchlebt gerade eine prägende Ersterfahrung. Und schon sieht er sich massiven persönlichen Angriffen und dominanten Erniedrigungsroutinen ausgesetzt. Dieses unsägliche Verhalten seines Chefs potenziert noch einmal den sowieso vorhandenen Stress.

Drittens agiert er in einer ihm unvertrauten Kultur. Vieles erschließt sich ihm nicht. Informelle Routinehandlungen, die für Deutsche bekannt und normal sind, hat er noch nicht verinnerlicht.

Kaum ein Jugendlicher wird das Standing haben, sich offen gegen ein solches Verhalten aufzulehnen und sein Recht auf anständige Behandlung einfordern.

Ali wird eine defensive Vermeidungsstrategie fahren: Er wird jeden Dialog mit Herrn Meier vermeiden. Er wird auf die Tauchstation gehen und warten, bis das Praktikum vorbei ist. Und er wird nie wiederkommen.

Im schlimmsten aller Fälle ist dieser junge Mann für die formale deutsche Arbeitswelt verloren. Wir wiederholen uns: Praktika sind „Erlebnisse, die verändern“[9].

Gestaltung erfolgreicher arbeitsweltlicher Erfahrungen für Jugendliche nichtdeutscher Herkunftssprache:

Wie gestalten wir erfolgreiche arbeitsweltliche Erfahrungen? Wie können wir Praktika zu gelungenen inklusiven Erfahrungswelten entwickeln?

Die erste Antwort mag banal anmuten: Es ist alles schon bekannt. Wertschätzung, freundliches aufeinander Zugehen. Aufmachen, lächeln, eine Vertrauensperson als Partner für Ali bestimmen. Zugewandtheit. Im Dialog bleiben. Langsam und verständlich sprechen. Menschenfreundlichkeit.

Warum nur sind diese Banalitäten keine Selbstverständlichkeit? Wir wollen diese Frage hier nicht beantworten. Dafür werden wir diese scheinbaren Banalitäten beleuchten und überlegen, wie ein solch zugewandt-dialogisches Verhalten en détail aussieht.

Wir werden jetzt wohlmeinende Verhaltens- und Kommunikationsdynamiken für den Kontext „erster arbeitsweltlicher Erfahrung“ entwickeln.

Grundsätzlich gilt: Beziehungsebene vor Sachebene.

Weiter gilt: Im ersten informellen Reinschnuppern in die Arbeitswelt geht es nicht primär um die Vermittlung von Wissen und fachlichem Können. Die Jugendlichen sollen:

Berührungsängste abbauen
vielleicht schon vorhandene eigene Lebensentwürfe überprüfen
den ersten Kontakt zu möglichen Arbeitgebern knüpfen

Unternehmen sollten mittels wohlmeinender dialogischer Interaktion eine positive Beziehung zu den Jugendlichen nichtdeutscher Herkunftssprachen aufbauen. Und so ihren Beitrag zu einem fließenden Übergang von Schule in den Beruf leisten.

Hauptaufgabe im Erstgespräch vor dem Praktikum sollte Vertrauensaufbau sein. Es geht um eine auf Vertrauen basierende Ich-Du-Beziehung. Die entsteht über den Dialog auf Augenhöhe. Vertrauen ist sowohl das „Produkt als auch die Vorbedingung von Kommunikation“[10].

Der vertrauensschaffende Dialog verlangt auch nach Selbstöffnung[11]. Das bedeutet mehr als nur den ritualisierten einseitigen Frage-Antwort-Dialog zu inszenieren, in dem die praktikumssuchende Person zur Selbstoffenbarung genötigt wird. Wie beispielsweise durch die Standardfrage: „Was sind deine Hobbies?“

Das Kreuzverhör sollte den strafrechtlichen Ermittlungen vorbehalten bleiben. Für den Aufbau von Beziehungen ist es völlig ungeeignet.

Das bedeutet weiter, dass der Fragende auch zum selbstoffenbarenden Sagenden[12] wird. Der oder die Fragende muss ihr hohes Ross verlassen. Sie muss sich öffnen. Sie muss bereit sein das zu geben, was sie fordert: Einblicke und Antworten. Wir postulieren eine wohlmeinend-menschliche und teilende Form des gemeinsamen Dialoges.

Die in der deutschen Arbeitswirklichkeit weit verbreitete dominante Form des monologisierenden Dialoges basiert auf Machtstrukturen, die immer weniger gegeben sind. Heute sind Arbeitnehmer „Mangelware“; und Arbeitgeber werden zu Arbeitnehmersuchendenn.

Leider ist dieser dramatische qualitative Wandel nicht in den Köpfen der Arbeitnehmersuchenden – früher Arbeitgeber- angekommen. Im „war for talents“ wird derjenige gewinnen, der bereit ist zum wohlmeinenden Dialog und zum schrittweisen Aufbau von Vertrauen. Das ist die Basis zur längerfristigen Bindung von Arbeitnehmern.

Tipp: Machen Sie auf. Schon im ersten Gespräch. Beispielsweise könnten Sie erzählen, dass sie das Wetter heute toll finden und dass Sie nach der Arbeit eine Runde joggen werden. Oder Sie könnten von Ihrem Hobby ein paar Worte erzählen. Das sind keine verlorenen Worte, sondern gewonnene Punkte zum Knüpfen von Beziehungen.

Noch dazu sollte dieser Dialog stärken- und interessenorientiert sein. außerhalb des gesicherten Lernraumes „Schule“ müsste Herr Meier im ersten Schritt ausloten, wo er Ali die Möglichkeit geben kann, seine Potentiale und sein Können einzubringen. Dies wäre ein zentrales Thema im Vorgespräch.

Tipp: Fragen könnten sein: Was kannst Du? Welche Sprachen sprichst Du? Welche Erfahrungen hast du schon gesammelt? Wozu hast du Lust?

Tipp: Anhand dieser Fragen sollten Sie den Frage-Antwort-Dialog auflösen hin zu einem gemeinsamen Gespräch. Ein belangloses einander zugewandtes Gespräch mit einem gemeinsamen Lachen am Ende: Das ist ein erfolgreiches Gespräch. Die Verantwortung für ein solches Gelingen liegt erst einmal beim potentiellen Arbeitgeber. Sie sind die Moderator*in.

Merke: Das setzt die engagierte Teilhabe am Anderen (Gergen, K.: Psychologie des Zusammensein, S 32) voraus. Herr Meier sollte die traditionell-hierarchisch geprägten Akteursfelddynamiken seines Unternehmens kennen, genauso wie seine diskursiven Qualitäten und im beiderseitigen Sinne weiterdenken. Er sollte sich schon während des Vorgespräches in die Situation und Potentiale des jungen Mannes eindenken.

Das setzt Selbstreflexion und Perspektivenreflexivität voraus; wie auch die Akzeptanz des eigenen Machtverlustes.

Oder mit anderen Worten: Herr Meier sollte sich seiner eigenen Stärken und Schwächen bewusst sein und er sollte auch die ihm unvertrauten Perspektiven von Ali in den Dialog annehmen, aufnehmen und integrieren. Wir schlagen hier die bewusste Auseinandersetzung mit dem fremdkulturellen Gegenüber vor. Im Zuge dieses Perspektivwechsels sollten die Lebensbezüge und Vorstellungen des fremdkulturellen Counterparts zu einem leitmotivischen Erkenntnisinteresse werden.


Obige Anforderungen an das dialogische Verhalten entsprechen den Anforderungen eines Empowerments.

Empowerment im Zuge arbeitsweltlicher Erfahrungen soll den Aktuer*innen – wofür unser Ali steht – Selbstbestimmung und die Autonomie ermöglichen. Nur so können sie ihre Interessen souverän vertreten und damit gesellschaftliche Teilhabe realisieren. Unter „Empowerment“ verstehen wir, die Möglichkeit zur aktiven Teilhabe anbieten.

So gesehen ist das Verhalten und die dialogische Ausrichtung von Herrn Meier beispielhaft für einen disempowering dialogue, in dem die Gedanken und Gefühle des Anderen vernachlässigt, ja missachtet werden.

Interkulturelles Empowerment im dialogischen Vollzug[13]:

Es gibt Gelingensbedingungen für ein Empowerment unter interkulturellen Vorzeichen, die wir jetzt aufzählen und erläutern.

Wichtig ist, dass Jugendliche nichtdeutscher Herkunftssprache im Sinne des Empowerments nicht als defizitär wahrgenommen werden. Im Gegenteil ist hier danach zu fragen, inwieweit hier Verschiedenheit und Differenz als exklusive Potentiale als wichtige Beiträge hinsichtlich des Gelingens lebensweltlicher und arbeitsweltlicher Erfahrungen eingebracht werden könnten.

Das Wohlbefinden als übergeordnete Kategorie:

Menschen sind dann bereit sich voll in Schule oder Arbeitswelt einzubringen, wenn sie sich im Akteursfeld wohl fühlen. Dann werden scheinbar spielerisch enorme menschliche Ressourcen aktiviert. Wir übernehmen freiwillig Eigenverantwortung. Unser Selbstvertrauen steigt. Uns verlangt es nach aktiver Mitgestaltung und Partizipation im gemeinsamen Aktionsfelde. Diese konstruktiven Prozesse zu initialisieren sollte oberstes Ziel auch für die ersten arbeitsweltlichen Erfahrungen sein.

Stellt sich die Frage, wie wir dafür sorgen können, dass sich Jugendliche nichtdeutscher Herkunftssprache in ihren ersten arbeitsweltlichen Erfahrungen wohlfühlen. Dabei differenziert sich Wohlbefinden in drei Unterkategorien:

1. Eigene Rolle in der Gruppe

Wohlbefinden stellt sich ein, wenn ich einverstanden bin mit dem, was ich aktuell tue. Und wenn ich Klarheit habe hinsichtlich dem, was ich zu tun habe und auch hinsichtlich meiner Rolle, die mir abverlangt wird. Weiter muss ich das Gefühl haben, kompetent zu sein. Was bedeutet, den aktuellen Anforderungen gewachsen zu sein..

2. Beziehung zu den anderen
In der Beziehung zu anderen: Im dialogischen Dazwischen muss in den Akteur*innen das Gefühl entstanden sein, ernst genommen und angenommen zu werden. Ebenfalls wichtig ist die Gewissheit, wertgeschätzt zu sein. Daraus wiederum entsteht in den Interaktionen ein Gefühl der Dazugehörigkeit.

3. Stimmigkeit in Bezug auf den Prozess
Wichtig ist weiter die Empfindung, dass ich mich als Person fair und gleichberechtigt behandelt fühle.


Stimmigkeit in Bezug auf den Prozess:

Wir betrachten die ersten lebensweltlichen Erfahrungen als einen Prozess von sozialen und dialogischen Interaktionen.

Eingebettet in diesen Prozess sind konkrete Arbeitsaufgaben. Diese lebensweltlichen Erfahrungen werden als stimmig empfunden, wenn das Gefühl vorhanden ist, den Fortlauf kontrollieren zu können. Es darf nicht das Gefühl entstehen, wehrlos den Launen Vorgesetzter ausgeliefert zu sein. Genauso wenig darf eine fachliche Überforderung entstehen.

Stimmigkeit mit dem Prozess „Praktikum“ entsteht, wenn die Jugendlichen nichtdeutscher Herkunftssprache den Prozess der Zusammenarbeit mitbestimmen und mitkontrollieren können.

Ebenfalls wichtig ist das Gefühl, dass ich als Praktikant*in meine Ressourcen sinnvoll einsetzen kann. Langeweile, sinnlose monotone repetitive Tätigkeiten korrumpieren das Gefühl der Stimmigkeit mit dem Prozess.

Die Kontextbedingungen sind ebenfalls prägend hinsichtlich der Stimmigkeit. Gemeint ist damit eine positiv-kameradschaftliche Atmosphäre in der Arbeitswelt, ein loyales Miteinander und einander helfen. In unserem Falle empfehlen wir Herrn Meier, den Praktikanten Hans schon im Vorfeld zu instruieren, dass er sich bewusst um Ali kümmert.

6. Zusammenfassung

Dreh- und Angelpunkt des Schaffens von Wohlbefinden ist die bewusste Auseinandersetzung mit dem Anderen, genauso wie dessen Anerkennung und Wertschätzung. Weiter sollten fremdkulturell motivierte Differenzerfahrungen als Potential betrachtet werden.

In der Konsequenz weitergedacht bedeutet ein solch „wohlbefindenskonzentriertes Verhalten“ die aktive Teilnahme an der Person des Gegenübers; verbunden mit der immer wieder zu stellenden Frage: Welche Folgen hat mein Handeln für die gemeinsame Zusammenarbeit?

II Wohlbefinden eine Utopie?

Vielleicht klingen diese Ausführungen utopisch und weltfremd. Viele mögen sich damit überfordert fühlen und verärgert abwenden. Denn ihre arbeitsweltlichen Gewohnheiten, Erfahrungen und Möglichkeiten sind andere. Andere werden sagen: „Machen wir doch sowieso!“

Jedoch werden Akteursfelder wie beispielsweise kleine und mittelständische Unternehmen in Thüringen nur dann erfolgreich die Potentiale von Jugendlichen nichtdeutscher Herkunftssprache aktivieren, wenn sie die obengenannten Vorschläge berücksichtigen und in ihre Unternehmenskultur integrieren.

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat im November 2022 das 4. Dialogforum „Integration durch Bildung“ veranstaltet. Hier wurde ausdrücklich überlegt, „wie der Übergang in Ausbildung und Studium besser gelingen kann“[14].

Im Impulsvortrag durch das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) wird genau auf diese Herausforderungen hingewiesen, die wir als ISBO thematisieren: Bedauert wird die „strukturelle Benachteiligung am Übergang“ [15] Konstatiert wird, dass der „Perspektivwechsel bei Unternehmen notwendig“ ist. Dabei wird darauf hingewiesen, dass Ausbildungsstellen, die „sich dabei auf ihre bisherigen Rekrutierungsstrategien und „Entscheidungslogiken“ (…) verlassen, geringere Chancen haben, (…). Wichtig ist es, bereits vor Beginn der Ausbildung Vertrauen auf beiden Seiten zu schaffen und Klebeeffekte durch Praktika und Einstiegsqualifizierungen (EQ) zu fördern. (Hervorhebung M.N.)“[16] Diese prominenten Stimmen – so unbequem sie auch sind – unterstreichen unsere Ausführungen.

Ausbildungsunternehmen, die Wohlbefinden, Vertrauen und Empowerment strukturell in ihre Ausbildung integrieren, werden leichter Mitarbeiter*innen gewinnen.

Quellenangaben „Das Handbuch“

[1] https://www.friedrich-verlag.de/grundschule/deutsch/sprache-untersuchen/komposita-hier-und-anderswo-7780#cta-box

[2] Vgl. dazu: Donalies, Elke: Grammatik des Deutschen im europäischen Vergleich: Kombinatorische Begriffsbildung, Teil I: Substantivkomposition. Hg.: Institut für Deutsche Sprache, Nummer 2/04, Mannheim, 2004.

[3] Bolten, Polylog 36, S. 28

[4] Alexander Thomas nach CV

[5] Eine relationale Kommunikation, die sich darüber hinaus an strukturprozessualen Perspektiven orientiert, kann als eine verbindende oder konnektive Kommunikation verstanden werden, die einerseits in der Lage ist, strukturelle Löcher zu überbrücken (Burt 2004). Auf der anderen Seite ist diese auch sensibel für mögliche Dis:konnektivitäten und sogenannte „Gap-Factors“, wie sie Balasubramanian (2021) beschrieben hat. Überdies prägt die skizzierte relationale Kommunikation eine Haltung, die Abwertungen vermeidet und vom Grundsatz wertschätzend argumentiert, auch wenn es andere Perspektiven zu einem bestimmten Sachverhalt gibt. In jedem Fall gilt dabei „people’s sense of worth, dignity, honour, reputation, competence“ (Spencer-Oatey 2008:14) nicht aus Blick zu verlieren. Als solche kann eine relational verstandene Kommunikation auch zur Überwindung von Unbestimmtheit und Unsicherheit im Umgang mit Anderen beitragen.

[6] Bolten, Polylog 36, S. 28

[7] Vgl. dazu seinen VUCA-Vortrag vom Juli 2021 (online)

[8] Conti, S. 114; vgl. dazu auch Schmid 1999:12

[9] Alexander Thomas nach CV

[10] Luhmann 2000: 54ff.

[11] Vgl. dazu Gennerich 2000/Giddens 1995; vgl. dazu weiter Conti: 2011:83

[12] Vgl. dazu auch Bodenheimer, Aaron: Über die Obszönität des Fragens

[13] In den nun folgenden Ausführungen orientieren wir uns schwerpunktmäßig an dem Vortrag Luisa Conti´s anlässlich ihrer Habilitation am Fachbereich für Interkulturelle Wirtschaftskommunikation in Jena vom 12. Juni 2022. Dort stellt analysiert sie die Gelingensfaktoren von Empowerment. Schwerpunkt ihres Vortrages ist dabei der Transfer von Martin Buber´s Dialoganalysen auf interkulturelle Akteursfelddynamiken. Dieser Analyse wiederum sehen wir uns im Verfassen dieses Textes verpflichtet.

[14] Dialogforum Integration durch Bildung. Tageszusammenfassung – 4.Dialogforum „Integration durch Bildung“

[15] Ebda. S. 2, Vortrag von Dr. Mona Granato (BIBB)

[16] Ebda.