Ali will Arzt werden

Herausforderungen bei der Berufswahl aus interkultureller Perspektive

WORUM ES GEHT

In diesem Lernszenario geht es um kulturelle Zuschreibungen. Dies im Zusammenhang von Berufswahl und Beruflicher Orientierung.

Schwerpunkt dabei sind interkulturelle Aspekte. Wir fragen danach, wie Lehrer*innen ihre Schülerinnen und Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache bei deren Entscheidungen im Kontext von Beruflicher Orientierung und Berufswahl unterstützen können:

Jugendliche im Spannungsverhältnis unterschiedlicher kultureller Handlungsmuster

Bedeutung von Familie bei der Berufswahl

ÜBERBLICK

Das Besondere an dieser Lernszene ist, dass wir hier dieselbe Situation mit zwei unterschiedlichen Animationen darstellen.

Die Situation: Ali hat einen Ausbildungsplatz als Mechatroniker bekommen. Aber er will jetzt das Angebot nicht annehmen, weil sein Onkel aus Damaskus sagt, er solle Arzt werden. In der Animation sehen Sie zwei Varianten des Dialoges zwischen Ali und seiner Lehrerin, als Ali ihr eröffnet, dass er jetzt die Lehrstelle doch nicht wolle.

Im weiteren Verlauf fragen wir danach, welche Reaktion seitens der Lehrerin angebracht ist. Daraus leiten wir Empfehlungen für Lehrer*innen und Akteur*innen der Beruflicher Orientierung ab.

ERSTEN ANIMATION

zweite ANIMATION

Fragen

  • Wie würden Sie das unterschiedliche Verhalten von Frau Schwarze im Vergleich zur ersten Animation beschreiben?
  • Was sollte Ihrer Meinung nach das Ziel von Frau Schwarze in diesem Gespräch mit Ali sein?
  • Wenn Sie die beiden Animationen miteinander vergleichen: Welches Verhalten ist Ihrer Meinung nach zielführender?

Kultursensibles Verhalten von Lehrer*innen bei schweren Entscheidungen von Schüler*innen im Kontext von Berufswahl und Beruflicher Orientierung

ANALYSE DER ERSTEN ANIMATION

DAS VERHALTEN VON FRAU SCHWARZE IST IN DER ERSTEN VARIANTE ZIELFÜHRENDER. DAS HAT MEHRERE GRÜNDE:

Die Lehrerin macht Ali keine Vorwürfe. Sie thematisiert auch nicht ihre Enttäuschung. Obwohl diese Enttäuschung durchaus nachvollziehbar ist, angesichts der Mühen, die sich seine Lehrerinnen und Lehrer gemacht haben. Es geht um Ali und darum, dass er in sich geht und dass er zu einer souveränen Entscheidung kommt hinsichtlich seiner Berufswahl. Denn eine Entscheidung, die aus ihm selbst kommt, die intrinsisch angelegt ist, wird es ihm wesentlich leichter machen, eine Ausbildung oder ein Studium erfolgreich zu absolvieren.

Und genau das thematisiert Frau Schwarze, wenn Sie sagt: „Tut mir leid, dass Du Dich nicht freust.“ „Es geht nicht um uns. Es geht um dich.“ Sie anerkennt die Perspektive des Gesprächspartners und thematisiert sie.

Frau Schwarze hat Coaching-Qualitäten. Im ersten Schritt thematisiert Sie Gefühle auf der Meta-Ebene, „Tut mir leid, dass Du dich nicht freust“. Dann wechselt Sie die Perspektive: „Es geht um Dich!“

In der ersten Animation thematisiert Frau Schwarze neben ihrer Ratlosigkeit, auch ihr Verständnis hinsichtlich Alis Entscheidungsdilemma: „Ich frage mich gerade, wie wir dir jetzt helfen können.“ Sie profiliert sich hier nicht als eine Allwissende, die Alis Situation besser einschätzen kann, als Ali selber. Sie thematisiert offen und wertschätzend die Situation. Sie zeigt ein souveränes Verhalten, indem sie auf der Meta-Ebene die verfahrene Situation spiegelt und damit auch die Ratlosigkeit von Ali anerkennt. Sie redet mit Ali auf Augenhöhe. (Näheres in unserem Arbeitsblatt „Sprachliche Asymmetrie“)

Das macht den Dialog im besten Sinne symmetrisch; sie wird zur Gesprächspartnerin und nicht zur vorwurfsvollen Besserwisserin.

Gut ist auch, dass Frau Schwarze den Druck aus der Situation nimmt und Ali dazu motiviert, seine Situation im Gespräch mit seinen Angehörigen erneut zu reflektieren. „Machen wir uns keinen Stress. Du hast noch eine Woche Zeit. Rede erst mal mit deiner Familie.“

Sie überfordert Ali nicht noch zusätzlich. Sondern sie empfiehlt ihm, auf das gesamte Bündel seiner sozialen Ressourcen zurückzugreifen.

Das ist eine erfolgversprechende Strategie gerade für Menschen, die sich in einem Akteursfeld bewegen, dessen Konventionen ihnen teilweise fremd sind. Dieser Mangel an Plausibilität ist zusätzlich belastend. Bitte vergleichen Sie dazu unser Arbeitsblatt Perspektivenreflexivität.

Letztendlich leben er und seine Familie in Deutschland als einem Akteursfeld, das sich ihnen noch nicht voll erschließt. Umso wichtiger ist dann das Herstellen von Plausibilitäten durch den Rückgriff auf die eigenen Netzwerke und Ressourcen.

ANALYSE DER ZWEITEN ANIMATION

WIR GLAUBEN, DAS VERHALTEN VON FRAU SCHWARZE IN DER ZWEITEN ANIMATION IST HÄUFIG ANZUTREFFEN. SIE MEINT ES JA GUT MIT ALI. SIE BEMÜHT SICH UM CONTENANCE. UND GANZ WICHTIG: SIE SCHAFFT ES, DASS DAS GESPRÄCH OFFEN BLEIBT: „LASS UNS MORGEN WEITERREDEN.“

“Wir haben doch schon tausendmal drüber gesprochen“, „Wir haben uns alle so viel Mühe gegeben“… Ihr Verhalten ist durchaus nachvollziehbar. Aber hilft das Ali? Ali, der gerade zerrissen ist zwischen unterschiedlichen Plausibilitäten, zwischen verwandtschaftlichen Verpflichtungen, beruflichen Träumen und praktischen Abwägungen.

Vorwürfe helfen hier weniger. Frau Schwarze sollte besser Last von den Schultern Alis nehmen. Das macht es Ali leichter, eine Entscheidung zu fällen, die für ihn tragfähig ist.

Eher unterschwellig sendet Frau Schwarze Botschaften. Getreu dem Mottto: „Du kannst froh sein, wenn Du die Lehrstelle bei der Windpark GmbH bekommst.“ Sie unterstellt, dass das Medizinstudium für ihn nicht realistisch ist. „Weiß Dein Onkel, dass man in Deutschland einen Abiturschnitt von 1,1 braucht, um Medizin studieren zu dürfen? Weiß dein Onkel, dass Du gar kein Abitur hast, sondern nur die Mittlere Reife?“

Wir halten eine solche Positionierung für problematisch. Frau Schwarze riskiert, dass sie Ali auf eine gesellschaftlich-berufliche Situation reduziert, die unter seinen Möglichkeiten ist.

Frau Schwarzes Verhalten ist ein zum Teil widersprüchlich: Auf der einen Seite lobt sie ihn „Das ist eine super Leistung“, auf der anderen Seite zeigt sie ihm Grenzen. Frau Schwarze aktiviert damit ein klassisches Rollenverständis, das Menschen mit nicht deutscher Herkunftssprache hinsichtlich ihrer beruflichen Potentiale reduziert und damit eine klassenüberschreitende vertikale Karriere verhindert.

Damit wäre die Schule der Reproduktionsraum von Klassenunterschieden. Überspitzt formuliert: Akademiker*in wird, wessen Vater oder Mutter Akademiker*in ist.

Frau Schwarze meint es gut. Aber ohne zu wollen, legt sie ihn auf eine defizitäre Rolle fest und belastet ihn mit Vorwürfen.

WAS IST AN ALIS SITUATION INTERKULTURELL?

Nicht nur Ali hat ein Problem mit der Berufswahl. Nicht nur Ali befindet sich in einem Entscheidungskonflikt. Das geht sehr vielen jungen Menschen so; unabhängig von Herkunft und sozialer Zugehörigkeit.

Doch was ist dann das speziell Interkulturelle an Alis Situation?

Nun wir vermuten, dass Ali die Konventionen seines neuen Akteursfeldes weniger vertraut sind, als es bei seinen Klassenkameraden der Fall ist, die in Deutschland geboren sind.

Weiter vermuten wir, dass die Familienmitglieder auf Alis Entscheidungen einen größeren Einfluss haben, als es in Deutschland der Fall ist.

Aber wir müssen hier sehr vorsichtig sein mit unseren Vermutungen. Denn das kann auch für Menschen gelten, die in Deutschland geboren sind. Vielleicht haben sich Ali und Alis Eltern viel mehr Gedanken über Deutschland gemacht als viele Deutsche?

Um das herauszubekommen, müssten wir noch genauer in die Situation von Ali zoomen. Und genau das wäre die Aufgabe des helfenden Umfelds.

Auf jeden Fall darf dieses helfende Umfeld nicht davon ausgehen, dass Personen mit Migrationshintergrund sozusagen defizitär unterwegs sind. Und dass sie nicht verstehen, was in Deutschland abläuft.

Über das gleichzeitige Leben in verschiedenen Welten: Multirelationalität als Potential Jugendlicher nichtdeutscher Herkunftssprache

Wir können die exklusive Seinsverfassung von Jugendlichen nichtdeutscher Herkunftssprache mit Fluchthintergrund mit einer griffigen Formel zusammenfassen:

Lebenswelt Nummer eins ist die Lebenswelt, in der die Jugendlichen nichtdeutscher Herkunftssprache geboren und in Form der Erst-Sozialisation geprägt sind. Bei Ali ist das Damaskus.

Prägend sind auch häufig die Fluchterfahrungen. Den Wenigsten war und ist es vorbehalten mittels eines dreistündigen Fluges am Frankfurter Flughafen auszusteigen. Die Meisten haben gefährliche Monate oder gar Jahre hinter sich; prägende Jahre. Diese Erfahrungen kondensieren und verfestigen sich dann in den jungen Menschen.

Genauso wie die Erfahrungen, die sie in ihrer neuen Lebenswelt zwei – Deutschland – machen. Auch das sind prägende Erfahrungen. Sitzt beispielsweise ein Jugendlicher nichtdeutscher Herkunftssprache sofort und ohne vorbereitenden Sprachkurs irgendwo in einer Regelschule im Unterricht? Oder wird er von einem wohlwollenden Netz von Hilfswilligen umsorgt, gut untergebracht und sprachlich aufgebaut? Knüpfen die Jugendlichen nichtdeutscher Herkunftssprache schnell Kontakt zu Deutschen aus der gleichen Peergroup? Lernen sie schnell Deutsch? Oder segregieren sie sich zusammen mit ihrer Familie in eine Parallelwelt; abgeschottet von der deutschen Öffentlichkeit?

All diese Faktoren in der Summe prägen die Jugendlichen nichtdeutscher Herkunftssprache und bilden die Ausgangsbasis für deren weiteren Lebensweg. Deswegen sollten wir diese multifaktoriellen Einflüsse auf die Jugendlichen nichtdeutscher Herkunftssprache hinterfragen; am besten unter der Perspektive der Chancenorientierung.

Die Jugendlichen nichtdeutscher Herkunftssprache können in Echtzeit all ihre gemachten vielfältigen Erfahrungen abrufen. Sie sind konstituierender Bestandteil ihrer Alltagspsyche. Wir sprechen hier von einer multiplen Person mit einer kulturellen Mehrfachzugehörigkeit. Das ist Fluch und Segen zugleich. Vgl. dazu Übung „Ich bin doch ganz viele“.

Wir sehen das an Ali in unserer Animation. Ein Teil seiner Identität ist nach wie vor in Syrien. Sein soziales Netzwerk, seine Bezugspersonen in seiner Lebenswelt 1 sind präsent; in Echtzeit. Ali steht zwischen Baum und Borke. Er erlebt unterschiedliche Handlungsplausibilitäten, Berufslogiken; unterschiedliche Wege in den Beruf. Er erlebt in sich das widersprüchliche Verlangen, seinen wichtigen Bezugspersonen aus allen Lebenswelten gerecht zu werden. Das ist schwer auszuhalten. Das kann zu Blockaden führen. Das führt häufig zu kognitiven Überlastungen.

  • Fragen Sie danach, wie wichtig beispielsweise Ali die Meinung von seinem Onkel ist. Klären Sie den Einfluss von Lebenswelt eins.
  • Fragen Sie nach Bezugspersonen, die ihn unterstützen könnten.
  • Fragen Sie danach, welche Unterstützung er von den Akteur*innen erfahren könnte, die Einfluss auf seine Entscheidungen haben.
  • Nehmen Sie Kontakt auf mit Bezugspersonen von Ali.
  • Thematisieren Sie sein Dilemma, indem Sie seine Perspektive einnehmen und ihm beschreiben.
  • Nehmen Sie die Dramatik aus dem Entscheidungsdilemma, indem Sie darauf verweisen, dass es vielen Menschen so geht.
  • Zeigen Sie ihm auf, dass es im deutschen Bildungssystem immer auch den Plan B gibt in Form eines differenzierten Systems von Bildungszugängen.
  • Auf jeden Fall: Nehmen Sie Druck raus. Nehmen sich zurück. Zeigen Sie Ihren Frust nicht. Seien Sie der Fels in der Brandung, auf den Ali sich stützen kann.
  • Und bitte denken Sie dran: Letztendlich ist die Wahl der Ausbildungsstelle seine Entscheidung. Er steht im Praktikum. Er absolviert die Ausbildung. Er muss damit leben. Nicht Sie.

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Flucht
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